Liebe Kolleginnen,
Liebe Kollegen,
ja, wir hatten gehofft, die Talsohle dieser Krise durchlaufen zu haben und wurden jäh zurückgeworfen. Die Ereignisse der vergangenen Monate waren alles andere als einfach für uns. Es ist kein Wunder, dass die immer stärker um sich greifende Verunsicherung der Belegschaft – die bedauerlicherweise von Geschäftsleitung und Verdi heftig befeuert wird -überall deutlich spürbar ist. Bereits im Juni 2020 habe ich in unserer Veröffentlichung (Titel: „Das Spiel mit der Angst“) einen Blick in die Zukunft gewagt und darin die Strategien/Zielsetzungen von Geschäftsleitung und Verdi genauer beleuchtet. Für mich hat sich damals schon abgezeichnet, was jetzt mit Bekanntwerden des Eckpunktepapiers vom 10.11.20 leider traurige Wirklichkeit wurde.
Seinerzeit hatte ich die Krise in Phasen gegliedert. Aktuell befinden wir uns inmitten der 1. Phase, in der das LH-Management (möglichst dauerhafte) Absenkungen der Lohn- bzw. Stückkosten bereits umsetzt. Wie ihr sicher aus den Medien erfahren habt, wird dieses Eckpunktepapier dem Unternehmen einen Sparbeitrag von rund 200 Mio. Euro bringen. Klar ist, dass ein solcher Betrag die Lufthansa nicht über Wasser halten kann, darum geht es aber aktuell auch gar nicht. Vielmehr lautet die Frage, was wir, „die Geldgeber“, für unsere 200 Mio. Euro als Gegenleistung bekommen?
Eigentlich sollte man annehmen, dass es in der Natur der Sache liegt, dass Management und Gewerkschaft unterschiedliche Interessen verfolgen. Während das Management versucht der Gewerkschaft einen möglichst hohen Sparbeitrag abzuringen, sollte die Gewerkschaft versuchen, möglichst viele nachhaltige Lösungen zum Schutz und Wohl der Belegschaft zu erreichen und durchzusetzen.
Erlauben wir uns also zunächst einmal einen Blick auf das, was wir geben:
- Reduzierung der KUG-Aufstockung auf 87%
Anmerkung: Der LH-seitige Aufstockungsbetrag wird in 2021 für viele Schichtmitarbeiter deutlich geringer ausfallen, weil sich dessen Berechnung an den tatsächlich gearbeiteten Schichtzulagen aus 2020 bemisst. Die hier vereinbarte Reduzierung wird sich daher für viele KollegInnen negativ auswirken.
- Kürzung des tariflichen Urlaubs für MA in Kurzarbeit (pro rata) bis maximal auf das gesetzliche Minimum (4 Wochen)
Anmerkung: Die Möglichkeit einer Kürzung des Urlaubs während der Kurzarbeit wurde durch die Arbeitsgerichte zwar positiv entschieden, aber noch nicht vom Bundesarbeitsgericht bestätigt. Die angestrebte tarifliche Regelung aus dem Eckpunktepapier greift einer gerichtlichen Entscheidung damit vor und manifestiert diese, unabhängig vom Ausgang der Entscheidung. Zudem verlaufen Kurzarbeitsquoten meist nicht konstant, sondern oft variabel, wodurch vollkommen unklar ist, wie die Ermittlung des individuellen U-Anspruchs durchgeführt werden soll. Außerdem sind die U-Planungen für viele Bereiche bereits abgeschlossen, so dass völlig offen ist, was hier in 2022 passieren wird.
- Streichung des Weihnachtsgeldes in 2020 und 2021
Anmerkung: Besonders die plötzliche (2 Wochen vor der Auszahlung!) Streichung des Weihnachtsgeldes für 2020 wird viele KollegInnen unvorbereitet treffen, da man mit diesem Geld geplant hat.
- Streichung von Urlaubgeld in 2021
- Streichung des Zuschlages zum Urlaubsgeld in 2021 (inkl. Kinderzuschlag)
- Aussetzen der Vergütungsrunden in 2020 und 2021
Und welche Zusagen hat die Verdi zu unserem Wohl oder zum Schutz vor Arbeitsplatzverlust für uns erzielt?
- Ausschluss von betriebsbedingten Beendigungskündigungen bis 31.12.2021 zzgl. Entlassungsschutz bis 31.03.22
Anmerkung: LH hat bereits mehrfach kommuniziert, dass ein möglicher Stellenabbau erst nach dem Ende der Kurzarbeit droht und dann ggf. betriebsbedingte Kündigungen ausgesprochen werden. Das ist eine logische Konsequenz, denn während der Kurzarbeit sind betriebsbedingte Kündigungen nur eingeschränkt möglich, weil gerade diese durch die Kurzarbeit vermieden werden sollen. Darüber hinaus ist der Ausschluss von betriebsbedingten Kündigungen bereits in der G-BV Kurzarbeit aus 1993, im MTV und im TV „Schutz“ verankert.
Der Entlassungsschutz bis 31.03.22 ist eine Farce, weil die tariflich geregelten Kündigungsfristen aus dem MTV § 41 bereits ab einer Beschäftigungsdauer von einem Jahr bis zum 31.03.22 und zumeist über den 31.03.22 hinaus wirken werden. Daher bringt dieser Punkt für praktisch keinen von etwaigen Kündigungen betroffenen KollegInnen einen Vorteil.
- Separater Side Letter mit Eckpunkten zu betrieblichen Freiwilligenprogramm
Anmerkung: Dieses Programm benötigt der Arbeitgeber, um in 2022 einen etwaigen, gewollten Stellenabbau möglichst einfach (!) umsetzen zu können. In dem Eckpunktepapier wurden keinerlei Rahmenbedingungen für ein solches Programm festgeschrieben, obwohl eine Definition von Bedingungen für unsere KollegInnen ein sehr wichtiger Punkt wäre.
- Neuabschluss TV ATZ
Anmerkung: Hier gilt gleiches wie zuvor.
Das Ungleichgewicht dieser Vereinbarung ist mehr als offensichtlich! Es ist eine Frechheit, dass man uns auch noch weismachen möchte und verkaufen will, mit diesem Eckpunktepapier etwas Gutes und Nachhaltiges für uns erreicht zu haben!
Um besser verstehen zu können, was von einer Gewerkschaft in der aktuellen Situation zu erwarten gewesen wäre, sollten wir uns die Ausgangsituation noch einmal vor Auge führen.
Die Verlängerung der Kurzarbeit durch die Bundesregierung bis Ende 2021 hat uns einen enormen Zeitgewinn verschafft. Es war klar, dass Lufthansa zwar weiterhin von fehlenden Umsätzen belastet wird, aber die Kosten eines möglichen Personalüberhangs wurden zunächst einmal durch Kurzarbeit um ein Jahr nach hinten verschoben. Aufgrund der sich nun veränderten Rahmenbedingungen, hätte man von der Gewerkschaft erwarten können, Überlegungen anzustellen, wie man diesen Zeitgewinn sinnvoll nutzt und man die eigene Strategie überdenkt und anpasst.
Darüber hinaus haben die jüngsten Ankündigungen eines wirksamen Impfstoffs sowie besserer und schnellerer Testverfahren dafür gesorgt, dass wir wieder Licht am Ende des Tunnels sehen können. Natürlich ließen diese Meldungen die LH-Aktie (bereits vor Bekanntwerden des Eckpunktepapiers) signifikant steigen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nahezu grotesk, dass Verdi noch immer an den im Juni ausgerufenen Zielen festhält und sich selbst einer flexibleren Regelungsmöglichkeit bei ungewisser, zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung beraubt hat.
Von einer Gewerkschaft sollte man erwarten, dass sie in erster Linie nachhaltige Lösungen zum Wohle und zum Schutz der Belegschaft erarbeitet, die dabei nach Möglichkeit auch die Interessen des Unternehmens berücksichtigen sollten. Die gewählte Strategie der Verdi auf einen langfristigen Kündigungsschutz zu setzen, war aus unserer Sicht von Anfang an unglücklich gewählt. Wie hätte denn LH einen solchen langfristigen Kündigungsschutz in der unklaren Situation überhaupt zusichern können? Spätestens nach der zuvor erwähnten Verlängerung der Kurzarbeit und weiteren Entscheidungen der Politik war eine Prognose für die Zukunft weiterhin unklar und damit ein langfristiger Kündigungsschutz nicht durchsetzbar. Wenn eine Verhandlungsstrategie nicht funktioniert, ist es Zeit über Alternativen nachzudenken. Vor diesem Hintergrund ist das oben erläuterte „Pseudoergebnis“ auch keine wirkliche Überraschung. Aus unserer Sicht wären sozialverträgliche Ideen und Lösungen gefordert gewesen, um einen etwaigen Stellenabbau nach Ende der Kurzarbeit sozialverträglich entgegen zu wirken. Dies könnten z.B. gestaffelte Abfindungsangebote, Teilzeitangebote, ATZ, etc. sein. An derartigen Lösungen besteht ein beiderseitiges Interesse, so dass es irgendwie gearteter Geschenke der Belegschaft – und schon gar nicht in diesem Umfang – bedurft hätte.
Die Hauptsorge der Lufthansa und der KollegInnen ist doch, dass wir nicht wissen, wie es nach dem 31.12.21 bzw. nach der Kurzarbeit weitergehen wird. Das LH-Management befürchtet, dann vor einem großen Personalüberhang zu stehen, der wegen der dann nicht mehr geltenden Kurzarbeit auf die Kostenseite voll durchschlagen würde. Wir Arbeitnehmer befürchten unsere Arbeitsplätze zu verlieren. DAS sind die (Haupt-)Probleme beider Seiten, die es zu lösen gilt, aber genau DAS wurde mit diesem Eckpunktepapier NICHT erreicht. Der faktisch aufgrund der Kurzarbeit ohnehin bestehende Kündigungsschutz wurde durch diese Vereinbarung lediglich bestätigt – ein „Mehr“ wurde für uns nicht erreicht. Eine Gewissheit, was nach Ende der Kurzarbeit und einem etwaigen Stellenabbau mit uns passieren wird, wurde überhaupt nicht erzielt. Dafür haben wir dem LH-Management rund 200 Mio. Euro in die Kasse gespült – ohne eine reale Gegenleistung. Das (Haupt-)Problem ist weiterhin existent und ein Gestaltungswille seitens Verdi ist weiterhin nicht erkennbar. Wir befürchten daher, dass wir in 2021 entweder erneut zur Kasse gebeten und/oder betriebsbedingte Kündigungen ab dem 01.01.2022 zeitnah ausgesprochen werden.
In unserem nächsten Webcast am 17.11.20 um 17 Uhr möchten wir euch weitere Informationen geben und eure Fragen beantworten. Der Webcast findet in der „privaten“ Facebook-Gruppe „Lufthanseaten @ Boden FRA“ statt.
Mit kollegialen Grüßen
Euer Thorsten Beißner,
Vorsitzender der AGiL